Sonnenaufgang an der Rachelspitze
Rachel – Lusen / 02.09.2010 / 166. Tag
Emma weckt mich schon in aller Frühe. Sie muss Gassi. Ich schäle mich aus meiner warmen Bettdecke und fröstele sofort. Im Zimmer ist es eiskalt. Das Thermometer an der Tür der Berghütte zeigt zwei Grad. Ich fröstele noch mehr. Über uns funkeln die letzten Sterne der Nacht. Die aufgehende Sonne färbt den Himmel in orangefarbene Streifen. Ohne Emmas dringendes Geschäft hätte ich dieses wunderschöne Tageserwachen nicht erlebt.
Die Kleider sind über Nacht nur teilweise getrocknet. Alles ist noch feucht und klamm. Die Wanderhose ziehe ich feucht an. Die Wanderschuhe sind auch nicht ganz trocken geworden. Es nutzt nichts, die Füße müssen rein.
Nach dem Frühstück wandere ich mit Klaus und Emma zunächst Richtung Rachelspitze. Mit 1452 Meter ist der Große Rachel der zweithöchste Berg am Goldsteig. Das Gipfelkreuz steht am frühen Morgen im gleißenden Sonnenlicht. Die Sonnenstrahlen wärmen, die Wanderhose ist schnell getrocknet. Über steinige Wege steigen wir bergab. Auf 1212 m erreichen wir oberhalb des Rachelsees die auf einem Felsvorsprung gelegene hölzerne Rachelseekapelle. Bereits 1885 wurde an dieser Stelle eine Kapelle errichtet, die nach einem Brand 1951 wieder aufgebaut wurde. Durch das Fenster bietet sich ein Blick in die Tiefe zum Rachelsee. Dort werden wir die erste Rast machen.
Der wunderbare Sonnentag verleitet mich zur Langsamkeit. Ich genieße jeden Schritt und die wärmenden Sonnenstrahlen. Wanderlust statt Wanderfrust. Die Bergkuppen des Bayerischen Waldes und die Täler mit kleinen Dörfern sind heute allesamt greifbar nah. Der Fernblick reicht bis zur Alpenkette. In zweieinhalb Wochen werde ich dort zu meiner ersten Alpenetappe starten.
Hinter dem Rachelsee folgt eine lange Waldpassage bis zum Teufelsloch. Ein Felsblockmeer aus Granit. Als hätte eine unsichtbare Hand riesige Felsbrocken in den Wald geworfen. Mitten durch den Wirrwarr aus Granitblöcken verläuft der Goldsteig. Langsam steigen wir nach oben. Jeder Schritt kostet Kraft und Aufmerksamkeit.
Wir steigen weiter und sehen das Gipfelkreuz des Lusen vor uns. Der Weg führt direkt darauf zu. Allerdings schiebt sich vor das Kreuz eine schier unüberwindbare steinerne Wand, die senkrecht nach oben führt. Dieser Aufstieg wird Himmelsleiter genannt. Bei jedem Schritt scheint mich der Rucksack in die Knie zwingen zu wollen. Niemals in meinem Leben werde ich diesen Aufstieg über die Himmelsleiter vergessen. Glücklich und erschöpft stehe ich am Kreuz und schüttele Klaus die Hand. Er strahlt übers ganze Gesicht. In den letzten Tagen ist auch er zum Fernwanderer geworden. Für den Herbst plant er eine Woche alleine auf Strecke zu gehen.
Mit 1373 Meter gehört der Lusen zu den höchsten Erhebungen im Bayerischen Wald. Rund um den Gipfel des Lusen türmen sich auf einer Fläche von mehr als 200.000 Quadratmetern Granitblöcke wild übereinander, entstanden durch Frostverwitterung in der Quartärzeit.
Abends sind Klaus, ich und Emma die einzigen Übernachtungsgäste im Lusen Schutzhaus, wenige Meter unterhalb des Gipfels. Hüttenwirtin Ilse Dankesreiter heizt den Kachelofen ordentlich ein, damit wir am Ofen Schuhe und Kleider trocknen können. Ilses Mann kocht leckere Leberknödelsuppe und Kaiserschmarrn. Derweil plaudert Ilse mit uns übers Wandern und das Leben auf der Wanderhütte. Ein spannender, anstrengender Tag geht zu Ende. Lange vor 22.00 Uhr gehen die Lichter in der Hütte aus.