Mittels Sonderbefehl die Heimat verlassen – 116. Tag

Kurt Gärtner, der Heimatvertriebene 

Eisenhüttenstadt – Guben / 14.07.2010 / 116. Tag

Der Mündungsbereich der Neiße in die Oder

Die neunundneunzigste Etappe meiner Deutschland-Grenzwanderung bringt mich heute von Eisenhüttenstadt, der Partnerstadt von Saarlouis im Saarland, nach Guben, der ehemaligen Hochburg der Tuch- und Hutherstellung. In Ratzdorf mündet die Neiße in die Oder. An der Neißemündung verlasse ich den Lauf der Oder, um Richtung Süden nun entlang der Neiße zu wandern. Das Oderwasser glitzert an diesem Morgen besonders intensiv, als wolle sich die Oder gebührend von mir verabschieden.

Als ich heute morgen losgewandert bin, ahnte ich noch nicht, dass ich heute einen Menschen kennen lernen würde, dessen Schicksal auf den Tag genau vor 65 Jahren durch die Deutsch-Polnische Grenze entscheidend geprägt wurde. Hinter Ratzdorf kommt mir auf einem alten Plattenweg unterhalb des Deichs, langsam fahrend, ein alter Golf entgegen. Der Fahrer ist neugierig, hält an und steigt aus. Wir begrüßen uns freundlich und was ich dann erfahre, wird mich noch lange beschäftigen.

Kurt Gärtner

Kurt Gärtner gehört zu den Menschen, die kurz nach dem Krieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Per Befehl enteignet und aus der Heimat ausgewiesen. Eine Kopie des Ausweisungsbefehls von damals trägt Kurt Gärtner bis heute ständig mit sich. Als er erfährt, weshalb ich Deutschland an seinen Grenzen umwandere, schenkt er mir diese Kopie. Nachdem ich meine Wanderung in Guben beendet habe und mir das Papier nochmals genauer anschaue sehe ich das Datum: 14. Juli 1945.

Heute vor genau 65 Jahren trat folgender Sonderbefehl in Kraft:

Sonderbefehl
für die deutsche Bevölkerung der Stadt Bad Salzbrunn einschließlich Ortsteil Sandberg.

Laut Befehl der Polnischen Regierung wird befohlen:

1. 1. Am 14. Juli 1945 ab 6 bis 9 Uhr wird eine Umsiedlung der deutschen Bevölkerung stattfinden.
2. 2. Die deutsche Bevölkerung wird in das Gebiet westlich des Flusses Neisse umgesiedelt.
3. 3. Jeder Deutsche darf höchstens 20 kg Reisegepäck mitnehmen.
4. 4. Kein Transport (Wagen, Ochsen, Pferde, Kühe usw.) wird erlaubt.
5. 5. Das ganze lebendige und tote Inventar in unbeschädigtem Zustande bleibt als Eigentum der Polnischen Regierung.
6. 6. Die letzte Umsiedlungsfrist läuft am 14. Juli 10 Uhr ab.
7. 7. Nichtausführung des Befehls wird mit schärfsten Strafen verfolgt, einschließlich Waffengebrauch.
8. 8. Auch mit Waffengebrauch wird verhindert Sabotage und Plünderung.
9. 9. Sammelplatz an der Straße Bhf. Bad Salzbrunn, Adelsbacher Weg in einer Marschkolonne zu 4 Personen. Spitze der Kolonne 20 Meter vor der Ortschaft Adelsbach.
10. 10. Diejenigen Deutschen, die im Besitz der Nichtevakuierungsbescheinigung sind, dürfen die Wohnung mit ihren Angehörigen in der Zeit von 5 bis 14 Uhr nicht verlassen.
11. 11. Alle Wohnungen in der Stadt müssen offen bleiben, die Wohnungs- und Hausschlüssel müssen nach außen gesteckt werden.

Bad Salzbrunn, 14.Juli 1945, 0 Uhr Abschnittskommandant

Kurt Gärtner träumt noch immer von seiner Heimat. Nur wenige Kilometer hinter der Oder-Neiße-Linie ist er geboren. Heute kann er wenigstens wieder über die Grenze. Heimatlos fühlt er sich nicht, aber seine Gedanken schweifen immer wieder in sein altes Heimatdorf. Meine Gedanken schweifen am Abend zu Kurt Gärtner.

Ich bin dankbar, dass ich in einer Zeit leben darf, für die Völkerverständigung und freundschaftliches Miteinander ein schützenswertes Gut darstellen. Dankbar dass die Grenzen meiner Heimat heute offen sind.

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